Weltweit treffen sich Tausende Velofahrende jeden letzten Freitagabend des Monats, um gemeinsam durch die Strassen der Stadt zu fahren. In der Schweiz erlebt diese Bewegung, die unter dem Namen «Critical Mass» (dt. kritische Masse) bekannt ist, einen Aufschwung. Doch was steckt hinter dieser Bewegung, die seit fast dreissig Jahren das Herz jedes Velofahrenden höherschlagen lässt?
Seit fast zwei Jahren fahre ich bei der Critical Mass (fortan CM) in Zürich mit. Seither habe ich nur zwei Anlässe verpasst: Juli 2018 und März 2020 – wobei ich im März als Corona-Alternative eine Velotour gemacht habe. Einmal bin ich in Kassel mitgefahren und einmal in Hamburg. Doch von Anfang an: Als ich im Mai 2018 zum ersten Mal mitgefahren bin, hat mich dieses Erlebnis schlichtweg umgehauen. Ich fuhr um 18.30 Uhr zum Zürcher Bürkliplatz und traf dort auf ein paar Dutzend Velofahrerinnen und Velofahrer. Ich wurde freundlich begrüsst und kam ungewohnt schnell ins Gespräch. Was würde nun geschehen?
Kurz darauf begann einer der Velofahrer mit rotem Velo und grosser Fahne mit der Aufschrift «Critical Mass» schon fast nervös Runden auf dem doch recht leeren Platz zu drehen. Es schlossen sich immer mehr Leute an, sodass auch ich mich aufs Velo schwang und mitfuhr. Wir bogen gemeinsam auf die befahrene Strasse ein. Ein paar Leute stellten sich vor die Autos, liessen alle Velos durch und schlossen nach dem letzten Velo wieder auf. Wir fuhren eine spontane Route durch die Stadt, plötzlich verschwand die rote Fahne, und ich fand mich zuvorderst wieder, gut fünfzig Velofahrende hinter mir. Die Strasse gehörte uns, ein wahres Freiheitsgefühl!
Warum fährst du mit?
Kurz nach meiner ersten CM ging ich an ein «offenes Treffen». Auch dort wurde ich herzlich empfangen, und ich erfuhr, dass es das erste Treffen in dieser Form war. Wir philosophierten lange darüber, was die CM ist, wie wir uns engagieren können und ob wir Ziele erreichen möchten oder können. Das klingt vielleicht komisch, denn für die meisten Bewegungen ist klar, dass man gewisse Ziele erreichen möchte. Doch die CM ist eine spezielle Bewegung. Die CM ist eine führerlose Bewegung, eine Bewegung, die von jedem kritischen Einzelteil (so werden die Aktivistinnen und Aktivisten genannt) mitgestaltet wird. Anders als bei anderen Bewegungen organisiert niemand die CM, niemand kann im Namen der CM den Medien gegenübertreten, und niemand kann die CM absagen. Wo die CM langfährt, bestimmen jeweils die Menschen, die sich zuvorderst befinden. So werden in Zürich Medienanfragen konsequent mit einer Einladung beantwortet, selbst an die CM zu kommen, um die Menschen vor Ort zu fragen, warum sie mitfahren.
Zyklen des Wandels
Wer einen Einblick in die spannende Geschichte der CM erhalten möchte, greift zum Buch «Shift Happens – Critical Mass at 20», das im Jahr 2012 erschienen ist. Die erste CM fand im September 1992 in San Francisco statt, wobei sich dieses Konzept rasch um den Globus verbreitete. Die vierzig Essays von kritischen Einzelteilen aus der ganzen Welt zeigen, wie vielfältig die Effekte der CM sein können: So bekamen in Los Angeles die Umweltorganisationen dank der CM einen enormen Aufschwung, und in Frankreich entstanden die Vélorutions. In Budapest fand mit über 80 000 Teilnehmenden die grösste je durch- geführte CM statt – sie veränderte das Stadtbild stark. In Italien findet jedes Jahr während drei Tagen die «Ciemmona» (dt. grosse kritische Masse) statt. Dass nach zwanzig Jahren der ersten CM so vielfältige Texte entstanden sind, zeugt vom ungeheuren Potenzial dieser Bewegung. Dennoch schimmert durch viele Texte eine gewisse Ernüchterung; überall lassen sich ähnliche Zyklen erkennen: Während die CM zu Beginn eine aktivistische Bewegung voller visionärer Geister war, verfällt sie mit zunehmender Popularität dem Mainstream und verwelkt schliesslich unter polizeilicher Begleitung. Auch Zürich durchlebte diese Zyklen. Quellen zeugen davon, dass in Zürich bereits im Jahre 1997 CM stattfanden. Leider ist hier die Geschichte ungenügend dokumentiert. Nun scheint die CM eine Renaissance zu erleben: Während im Sommer 2018 knapp 70 Menschen mitfuhren, waren es im Herbst 2019 bereits deren tausend! Die Frage stellt sich nun, in welchem Zyklus wir uns in Zürich befinden.
Zusammen verändern wir die Welt
Für mich war die Entdeckung der CM der Einstieg in den Aktivismus. Ich habe erkannt, dass wir gemeinsam unsere Gesellschaft verändern und dabei erst noch Spass haben können. Die Critical Mass hat mich auch zu umverkehR geführt, denn das rote Velo, das ich eingangs erwähnte, steht meistens vor dem umverkehR-Büro. Fährst auch du an der nächsten CM mit? In der Box siehst du, in welchen Schweizer Städten regelmässig CM stattfinden. Sprich mit den Menschen, frage sie, warum sie mitfahren, und erlebe deine Stadt ohne Autos. Du wirst schnell neue Freundschaften schliessen und bestimmt auch Mitglieder von umverkehR antreffen!
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